Absetzen

Bürgerliches Leben
Bürgerliches Leben

Ich bin diese Straße schon 10.000 mal entlang gegangen. Im Rechnen war ich immer schon gut. Spielende Kinder habe ich hier schon lange nicht mehr gesehen. Im Herbst bin ich der einzige, der einen Drachen steigen lassen möchte. Allerdings verscheuchen mich dann die Pferdedamen. Spielen verboten, wir sind ja nicht zum Spaß hier. Vielleicht sind die Kinder gerade beim Fagott Unterricht wenn ich durch die Straße gehe, oder üben sich abgemagert in chinesisch. Früh scharf machen, Mama ist stolz. Vielleicht gibt es hier aber auch gar keine Kinder mehr, weil sie einen schlechten shareholder-value haben, und ökonomisch nicht in den way of life der Prada Dame passen, die sich der gemachte Mann heute so gerne zum Vorzeigen hält? Dann lieber einen Hund. Nie hatte Deutschland so viele Hunde. Ost-Importe, Europa einig Wirtschaftsland. Die Kläffer hören im Gegensatz zu Kindern wenigstens aufs Wort. Und wenn nicht, zerren wir das arme Tier zum Tierpsychologen ins Fernsehen, damit wir alle daran teilhaben dürfen wie schlecht die Welt ist, und wie viel besser es alle machen können. Oder doch lieber noch ein Auto?

Es geht alles ganz einfach, alles ist easy, lecker, erfolgreich, ökonomisch. Alles voller Injektionen, subkutan ins Bewusstsein gespritzt. Aktiv im Rahmen meiner Ziele genieße ich den grenzenlosen Geschmack, voller Stärke. Im Moment sind wir uns wieder einig. Deutschland hängt wieder seine Fahnen raus, Kaiser Franz spricht vom deutschen Sieg, die Niederländische Presse titelt von »deutschen Stürmern«, die sich »nach Herzenslust austoben«. Eine Fernsehmoderatorin spricht von Reichsparteitagen. «Die Gefolgschaft wurde verweigert« hallt noch in meinem Ohr. Die Opposition beschwert sich über den demokratischen Aufbau des Parlaments, und nennt dies »konkretes Versagen«. Sozialdemokratisches Gesellschaftsverständnis. Von der Laterne wird mir auf dem Weg in die Stadt wieder und wieder erzählt, die Ausländer wären das Problem. Türken, wer sonst. Eigentlich kann man in jedem Satz Ausländer mit suchen/ersetzen gegen Türken tauschen. Der Bordstein spricht. »Deutschland überrollt alle« steht in der französischen Zeitschrift Libération. Wohlstandsmüll braucht keine Heimat. Wohlstandmüll braucht Feindbilder. Mir wird mulmig und ich gehe weiter.

Ein paar Schritte weiter an der Ecke kreuze ich zwei Personen, die sich vor einem Haus unterhalten. 16:30Uhr. Sie stehen vor einer der vielen Trinkeranstalten der Stadt. Wenn nichts mehr geht. Ich gehe durch eine doppelte Zigarettenrauch Nebelwand und höre, wie sich die Beiden über Ihre Errungenschaften austauschen. Medaillien vorzeigen. Irgendwas von Kardiologie und Onkologie flattert über den Bürgersteig. Wir lügen uns auch den größten Unsinn noch irgendwie schön. »Er nimmt den Schmerz auf die sanfte Art, damit mein Lachen, ein Leben lang hält.« Dieser Feinstaub in den Innenstädten macht alle krank – dort war ich langsam angekommen. Es ist Sommer in Deutschland. Der kommt direkt vor dem Herbst.

Schnell vor dem Einkaufen noch zur Bank. Ich mag es nicht mit Karte zu bezahlen. Mich empfängt eine Dame in einer untypisch hellen und sauberen Bahnhofshalle, die mir mütterlich anrät doch nur Anlagen zu machen, die ich auch verstehe. Welche EC-Karte nehme ich, und wo ist sie? Wie war noch mal die Geheimnummer? Raus aus der Bank mit der freundlichen Bedienung und weiter ins Geschäft, um ein paar Besorgungen zu machen. An der Kasse sitzt eine von Sarrazins unemanzipierten Kopftuchmädchen, die mich freundlich in perfektem Deutsch begrüßt, um dann in gekonnten Schritten meine Waren über den Piepser zu ziehen. Wieder unter 20€ geblieben. Wo lege ich den Rest meines Geldes an? Auf dem Heimweg komme ich wieder in der Siedlung vorbei, wo sich wenig Gedanken über Geldanlagen gemacht wird, wo auch die Banken- und Wirtschaftskriese niemand ernsthaft vom Hocker haut.

Angekommen in Satellitentown, Vorstadtbeton. Sozialwohnung, 60qm Selbstverwirklichung. Gastarbeiter, Südstadt. Hier geht man besser auch nicht abends alleine her. Wir halten unsere Vorurteile aufrecht. Wer weiß, ob nicht doch der Muselmann den Säbel rauspackt.  „Hallo“ ruft es leise hinter einem Busch hervor. Ich schaue mich verdutzt um und entdecke ein kleines, schwarzgelocktes Mädchen mit funkelnden Knopfaugen, welches sich hinter einem grünen Busch wohl vor mir versteckt hat, mich jedoch nun verlegen aber freundlich anlächelt. „Hallo?“ entgegne ich. „Hast Du Dich etwa vor mir versteckt?“ „Jaentgegnet sie, und läuft ein wenig kichernd hinter das Haus. Hier ist alles voller Kinder. Und doch, der Eindruck trübt nicht, werden es auch hier immer weniger. Weiter gegangen, und nach städteplanerisch wohl definierten Grenze zwischen Sozialbau und Eigenheim wieder angekommen im sogenannten besseren Viertel. Wieder in meiner Straße bemerke ich, wie sich meine Nachbarn in perfekter Choreografie erneut darin gefallen, sich vor mir im richtigen Moment wegzudrehen. 7 Jahre jetzt kein Gruß aus eigenem Antrieb. Gestandene, gemachte Männer aus gut bürgerlichem Haus. Nur menschlich vollkommen unzulänglich. Doch wenn der PC nicht läuft darf ich sicher sein, dass man plötzlich ganz unbefangen wird. Alle meinen sie es gut! Wie das kleine Mädchen, nur nicht freundlich und lebensfroh. Raffgierig und vorteilsbedacht.

Endlich Zuhause.

2 Antworten auf „Absetzen“

  1. Von der Laterne wird mir auf dem Weg in die Stadt wieder und wieder erzählt, Diese Sticker erzählen in der Tat eine andere Wirklichkeit.

    Mir ist die Tage hier in Solingen aufgefallen, am besten gepflegt sind die Autos. Und wenn Du mal richtig mies drauf kommen willst, dann schaue dir den Zustand der Schulen an.

  2. Spielende Kinder, die der Dreck an den Händen nicht juckt, die die Raupen auf den Bäumen sammeln und den Hühnern hinwerfen, die die Schweine füttern als wären sie Brüder, die der Fernseher nicht interessiert, die gibt es noch. Geh mal eine Straße weiter, dort leben noch Kinder wie wir früher. Sie wären ein Foto wert.

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