Riss in der Kette

Das muss man sich mal vorstellen! Da sitze ich zu später Stunde vor meinem Rechner und hacke noch ein paar unvernünftige aber so schön unabwendbare Zeilen, da kommt ein Getier hinein geflogen und macht sich nach kurzem Abstecher durch mein Sichtfeld auf, geradewegs in die Schreibtischlampe zu fliegen und unter hörbarer Aushärtung sofort an Flüssigkeit zu verlieren und nach kurzem Kampf zu erstarren. Das hat es so bestimmt auch nicht geplant, aber so schnell kann es vorbei sein. 

Wir hingegen leben mit einer Attitüde unnachahmlicher Überheblichkeit.

Das können wir uns auch leisten, denn erschrecken kann uns wenig. Wir sitzen mit fetten Hintern und vollgefressenen Bäuchen auf ruhigem Eiland und haben kaum ein Empfinden mehr, was Leben ist, welchen Wert es hat, und nicht zuletzt, wie sensibel es ist. Alles wird selbstverständlich, hat man es lange genug genossen, und eine behutsame Wiege kann sich heute nahezu jeder Zentraleuropäer in die Vita schreiben. Der nächste Arzt steht immer Spalier, gegen oder für alles und jeden kann man sich versichern, für jeden Wunsch nach Bequemlichkeit gibt es bereits eine adäquate Lösung, für die es sich ganz sicher lohnt darauf hin zu schwitzen. Unsere größte Sorge ist das Cholesterin über die Feiertage und wie wir in den fernen Süden kommen, wenn die Erde meint Aschewolken über Europa zu streuen. Völlig selbstverständlich nutzen wir Technologien, die wir nicht mal im Ansatz verstehen. Weißt Du, wie Dein Taschenrechner funktioniert? Ist auch egal. Wir unterhalten uns monatelang über Doktorarbeiten und wie gut ein Mensch noch sein kann, obwohl er mehrfach dreist gelogen hat, während man sich selbst permanent in die Tasche lügt. Alles ist geregelt oder regelbar; ruhe sanft mein Kind, in Deiner wattigen Blase der Sicherheit. Und passiert mal Unvorhergesehenes, rufen wir nach Schuldigen, mindestens aber nach Entschädigung! Das ist ein Phänomen. Der Deutsche entscheidet sich bei der Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit immer für die Sicherheit. Niemand auf der Welt ist so überversichert wie der Deutsche, ein Kind im Kindermädchen Staat, was sofort nach einer Amme schreit wenn es mal rülpsen muss. Dazu pass auch die Posse, eine Helmpflicht für Pedelecs in Erwägung zu ziehen, um „die Pedelec Fahrer besser zu schützen“. Das meinen die auch bestimmt so, wie sie es sagen. Ich hätte weitere Vorschläge sinnvoller Bürgerschutzpflichten:

• Kappen im Sommer, um den Bürger vor Sonnenstich zu schützen
• Schwimmflügel, um den Bürger vor ungewolltem Ertrinken zu retten
• Hanschuhe im Winter, um den Bürger vor Erfrierungen zu retten
• Mundschutz im Frühling, um den Bürger vor Pollen zu schützen

Den Angriff auf die Freiheit hat  Bin Laden versucht, sagt man, und er war selten erfolgreich. Doch es sind nicht seine Ketten, die er uns auferlegt hat, die wir spüren, es ist die eigene Kette, die wir uns fester und fester um den Hals schnüren, weil wir unser Cockpit mit Piloten versehen, die unter Flugangst leiden. Da kommt einer aus der Wüste und lässt ein paar Bomben platzen, und die halbe Welt ist in Aufruhr und erlässt Gesetze und Verordnungen, die nachhaltig das Leben wieder so sicher machen sollen, wie es vorher scheinbar war. Hat sich die Sachlage wirklich geändert? Hat Fukushima irgendwas an den Rahmenbedingungen deutscher Atomkraftwerke geändert, sodass sie plötzlich schnellstmöglich abgeschaltet werden müssen? Oder ist es schlicht die eigene Sicht auf die Dinge, durch die man meint, die Dinge anpassen zu müssen, weil man sich nicht mehr sicher fühlt. Es scheint einfacher die Dinge zu ändern, statt die eigene Sicht, ist doch Sicherheit immer ein sehr subjektives und stets gestörtes Empfinden. Schon eine kleine ungiftige Spinne vermag so manchen zwischen zwei Zügen an der Zigarette und einem Schluck aus dem Weinglas Schweißperlen auf die Stirn zu treiben, und ganz Deutschland verzichtet auf Gemüse, wenn 0,000001% daran erkrankt sind. Gestern noch erklärt man uns gebetsmühlenartig, man müsse Atomkraftwerke länger laufen lassen, weil dass dem Wachstum und dem Klima zuträglich ist. Heute packt man das Mantra aus, dass die Atomkraftwerke schnell weg müssen und wir als Speerspitze in der Entwicklung erneuerbarer Energien (wie geht das, Energie erneuern?) viel Wachstum generieren können, mehr, als mit der toten Technologie Atomkraft. Wachstum ist auch so eine Sicherheit, und gepaart mit der zusätzlich gefühlten Sicherheit der Abschaltung erscheint es einem als einzige gangbare Lösung, als Win-Win-Situation. Und das haben sich die Heilsbringer selbst überlegt! Doch das einzige was ewig wächst ist ein Geschwür, und es endet zielsicher in der Zerstörung seines Wirts.

Und auf der Suche nach einer wiederherzustellenden Sicherheit nach einem unvorhergesehenen Ereignis bemerken wir erst wenn uns die Luft weg bleibt, dass nicht Bin Laden oder sonstiger Terror unsere ach so ausgeprägte Freiheit gefährdet, sondern unser Drang nach Sicherheit und dem Glauben uns wie auch immer versichern zu können; weil wir glauben, für alles und jeden gibt es die Versicherung, wir hätten ein verbrieftes Recht auf Unversehrtheit, auf Gesundheit, auf Wohlstand und Wachstum. Alles hat einen Grund, einen Schuldigen, der das Weltbild nicht aus den Angeln hebt, sondern es festigt. Den schwersten Verlust den wir erleiden können, ist der über die Kontrolle. Deshalb war 9/11 für viele so schmerzlich, weil sie merkten letztendlich keine Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben; dass jeder durchgeknallte Spinner jederzeit Dein Leben auslöschen kann und es immer am seidenen Faden des Zufalls hängt, wie das Leben des Getiers an meinem Schreibtisch, das gerade allzu schnell zum Licht wollte. Warum musste ich auch die Lampe anmachen? Es gibt eben keine Lebensversicherung. Du bist nie sicher auf dieser Welt, Dir verkauft man nur Illusionen sich so zu fühlen.

Aber trotzdem freuen sich peinlich überheblich, die amerikanische Flagge schwenkend, so viele Personen im Glauben, ein wenig Kontrollverlust besiegt zu haben, so wie gleichsam in Pakistan amerikanische Flaggen verbrannt werden im Glauben mit 9|11 Kontrolle erlangt zu haben. Eine Generation, die vor 10 Jahren noch Pokemon Bilder getauscht hat tut so, als wäre sie von einer Last erlöst, weil man einen Terroristen a.D. über Board geschmissen hat. Eine Last, die man jeden Tag aufs neue auf das Brot geschmiert hat. Wie das Cholesterin. Wie verhält sich der Kosten-Nutzen Effekt bei der Terrorabwehr? Schützen schwer bewaffnete Polizisten an Bahnhöfen vor Selbstmordattentätern? Oder schützen sie nur die  gefühlte Sicherheit? Machen sie nicht sogar vielleicht eher Angst? Man könnte auch versuchen Fische im Wasser zu ertränken.

Aber wir haben ein Problem damit Gegebenheiten so zu sehen, wie sie sind, weil wir wenig Empathie üben und stets nur eine Seite sehen möchten oder können.

Stellen Sie sich vor jährlich kämen dutzende Flieger aus Thailand nach Deutschland, in denen alte thailändische Säcke sitzen, die zu Hause keine mehr abkriegen, um dann hier Ihre minderjährige Tochter zu ficken.

Flutwellen machen uns demütig, Bombenangriffe aggressiv. Allem schwingt die Bekenntnis bei, dass der Mensch die Willensfreiheit hätte. Hat er das? Hätte Bin Laden wirklich auch anders entscheiden können? Das wäre die Leugnung einer der fundamentalsten Grundfesten der Welt, der wir überhaupt unsere Existenz zu verdanken haben: Kausalität. Und sie zeigt sich besonders stark in der Politik: Der jeweils gewählten Person in Verantwortung bleibt überhaupt keine Wahl im freien Willen, nach dem so genannten besten Wissen und Gewissen zu entscheiden, sondern der Wille ist immer abhängig von vielen Rahmenbedingungen. Und deshalb blieb Bush, selbst wenn er anderer Ansicht gewesen wäre, nichts anderes übrig als der Angriff auf Afghanistan. Alles andere wäre zu seinem persönlichen Nachteil gewesen. In Afghanistan und im Irak sterben Menschen, weil es sonst für Bush ein persönlicher Nachteil wäre. Da kann man mit Patriotismus laborieren wie man will. So handelt der Mensch höchstens noch, wenn er sich der höheren Sache verpflichtet fühlt – zum eigenen Nutzen. Nur trifft man manchmal eigennützige Entscheidungen mit denen andere auch gut leben können, und manchmal nicht. Manchmal entscheidet man sich für das eigene gute Gewissen oder den Dank als Lohn. Wir unterscheiden das in Gut und Böse. Und so schmerzlich das ist, so bewusst ist mir, dass ich auch nur den Sprung von der Teppichkante wagen kann.

Das Tier in meiner Schreibtischlampe ist letztendlich auf die selbe Weise ums Leben gekommen, wie Millionen Menschen in der Geschichte, und es lässt sich, so schmerzlich und unerträglich das ist, auf genau zwei Wörter zusammenfassen: Shit happens. Da können wir ums Goldene Kalb tanzen wie wir wollen. Pech gehabt! Für uns ist es ab dem Moment zu spät, in dem es ein uns in der Sache gibt. Und bleibt die Zwischenzeit alles was wir haben, so ist es an uns sie mit Leben zu füllen, und nicht mit Angst vor dem Kontrollverlust.

Schau in die Kugel, das Bild Deiner Sorgen
Deine Angst von heute, ist Deine Welt von morgen